Sonntag, 14. April 2013

Leo Tolstoi, Vater der Verfolgungsjagd-Szene. (Anna Karenina, Rezension Part II)

Was haben James Bond, Matrix Reloaded und Tripple X gemeinsam? Richtig, 
sie alle müssten eigentlich Lizenz-Gebühren an Leo Tolstoi zahlen.

Habt ihr natürlich auch sofort geantwortet. Sehr gut.
Habt ihr nicht? Achso, na gut. ICH ERKLÄR EUCH DAS DANN MAL!

Alle genannten Filme haben neben dem Fakt, dass ein heißer Typ der Hauptrolle spielt eines gemeinsam:

Die Verfolgungsjagd-Szene

Die Verfolgungsjagd-Szene ist sozusagen das Nonplusultra moderner Spannungselemente. Evtl. nicht für die Zielgruppe dieses Blogs, aber zumindest für Männer, die Actionfilme lieben. Warum? Ganz einfach:

  • es geht um Autos
  • und zwar meist um viele
  • viele hochgetunte, schweineteure Autos
  • es ist laut
  • es ist schnell 
  • es macht Bumm (weil normalerweise mindestens einer der Verfolgungsjagd-Teilnehmer mitsamt seines Wagens lautstark in die Luft fliegt. Kommt ja nun mal immer wieder vor, dass mitten auf der Autobahn schräg geparkte LKWs rumstehen, in die man dann reinkracht. Und wer sich ein bisschen mit Autos auskennt, der weiß, das Autos im Falle eines Zusammenstoßes IMMER innerhalb von 5 Sekunden explodieren.)
  • durch den Kameraschnitt hat man das Gefühl, live dabei zu sein und quasi selbst im Wagen zu sitzen (natürlich in dem, der gerade nicht explodiert.)
Auch Tolstoi wusste um die Dramatik dieses Elements. War ja schließlich auch ein Mann, gell? Was tut man aber, wenn man in einem Zeitalter lebt, in dem Autos für die Allgemeinheit noch gar nicht existieren? 

Ein Königreich für ein Pferd!

Wir kommen zu: Anna Karenina, Buch 2, Kapitel 25: Die Pferderennenszene.

Was für eine Szene! Was heutzutage Meisterregisseure unter Einsatz teuerster Kameras und einer ganzen Horde von Schnittechnikern bewerkstelligen, das erreicht Tolstoi mit Worten. Seine Szene, in der Alexei Wronski an einem gefährlichen Pferderennen teilnimmt und dabei fast draufgeht, ist so spannend, dass mein armer kleine Finger nach dem Lesen ganz blau angelaufen war. (Sobald es spannend wird, fange ich leider an, auf meinen Fingern herumzukauen, ich kann es mir nicht abgewöhnen.)

Die Szene hat alles, was eine richtig gute Verfolgungsjagd-Szene braucht - nur halt 19. Jahrhundert Style!
  • es geht um Pferde
  • 17 Pferde
  • wertvolle, hyperschnelle, extra für diesen Zweck gezüchtete Rennpferde
  • wenn die majestischen Hufe auf dem Boden aufschlagen kommt es zu einem Geräuschpegel, der nur durch die gellenden Anfeuerungsrufe des Publikums übertönt wird (okay, das steht nicht wirklich im Text, aber ich schätze, es ist laut.)
  • es ist schnell (bisschen weniger schnell als in Tripple X, aber das ist bei dem Verhältnis der Pferdestärken auch nicht zu vermeiden. Jeder, der mal auf dem Rücken eines Pferdes im gestreckten Galopp geritten ist, weiß aber, dass Porsche fahren da nicht mithalten kann*.)
*Dieser Satz ist tollkühn geraten, da ich weder das eine noch das andere jemals probiert habe.
  • es macht Bumm. Zumindest für den unglücklichen Herrn Kusowlew, der auf seinem Pferd Diana ein Hindernis reisst. Ich gebe euch jetzt eine kleine Kostprobe von Tolstois Spannungsaufbautechnik à la Pferderennen. Die für uns wichtige Aufstellung ist hier folgende: 
1. Wronski auf Frou Frou
2. Machotin auf Gladiator
3. Kusowlew auf Diana

LOS!
"Die Zuschauer hatten den Eindruck gehabt, dass sie alle zugleich losgeritten waren; die Reiter aber waren sich des Sekunden betragenden Zeitunterschiedes bewußt, der für sie große Wichtigkeit hatte. 
Die aufgeregte und gar zu nervöse Frou Frou hatte den ersten Augenblick verpasst und mehrere Pferde hatten gleich vom Start an einen Vorsprung vor ihr; aber noch ehe sie das Flüßchen erreicht hatten, überholte Wronski, der mit aller Kraft das sich in  die Zügel legende Pferd zurückhielt, mit Leichtigkeit drei seiner Vordermänner. (...) In den ersten Augenblicken hatte Wronski weder sich noch sein Pferd in der Gewalt. Bis zum ersten Hindernisse, dem Flüßchen, war er nicht imstande die Bewegungen seines Pferdes zu bestimmen. 
Gladiator und Diana kamen zusammen dort an; fast im gleichen Augenblick richteten sie sich an dem Flüßchen auf und flogen nach der anderen Seite hinüber; sanft und unmerklich, als wenn sie flöge, schwang sich hinter ihnen Frou Frou in die Höhe; aber in demselben Augenblicke da Wronski sich in der Luft fühlte, erblickte er plötzlich, fast unter den Füßen Frou Frous, Kusowlew, der sich mit seiner Diana am anderen Ufer des Flüßchens auf dem Boden wälzte. Kusowlew hatte nach dem Sprunge die Zügel fahren lassen und das Pferd hatte sich mit ihm überschlagen. Diese Einzelheiten erfuhr Wronski später; jetzt sah er nur, daß gerade unter Frou Frous Füßen, da wo sie hintreten mußte, ein Bein oder der Kopf von Diana zu liegen kommen mußte.
Aber Frou Frou machte wie eine fallende Katze während des Sprungs eine kräftige Bewegung mit den Beinen und dem Rücken, wodurch sie einen Zusammenstoß mit dem anderen Pferde vermied und jagte weiter. "O du mein liebes Tierchen!" dachte Wronski."
  • Wenn ihr da jetzt nicht das Gefühl hattet, ihr wäret live dabei, kann ich euch auch nicht helfen. Ich habe an dieser Stelle schon Blut und Wasser geschwitzt und, wie von Tolstoi beabsichtigt, Wronskis Stute Frou Frou ins Herz geschlossen. Die Stute hat ihm schließlich wahrscheinlich gerade das Leben gerettet. Wronski dankt es ihr auf eine Weise, die für den Rest des Buches das Gefühl des Lesers zu seinem Charakter bestimmt. Die letzte Szene des Rennens ist hochspannend und ich würde sie gerne hier aufschreiben, aber da sie zu den für mich beeindruckendsten Szenen des ganzen Buches gehört, kann ich hier nicht spoilern. Es reicht zu sagen, dass sich damit meine Einstellung zu Wronski zementiert hat, dem ich von Anfang an misstrauisch gegenüber stand.  
Fazit: Wenn ihr euch auch sonst nicht an Tolstoi herantraut, oder keine Lust habt, Anna Karenina zu lesen: Diese Szene solltet ihr zumindest mal anlesen, es lohnt sich.

Ps 1: Sollte die Szene oben euch wider Erwarten kalt gelassen haben, lest sie bitte in eurem Kopf (von mir aus auch laut!) noch einmal in der folgenden Tonart:



Ps 2: Den ersten Teil der Rezension zu Anna Karenina findet ihr hier.

6 Kommentare:

  1. Ach, Mila, einfach wunderbar, was für lustige Aspekte du immer wieder herausgreifst. Danke für den frischen Blick auf den alten Tolstoi! LG Mila

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  2. Sehr interessanter Beitrag. Ich wusste gar nicht, dass Pferde sich überschlagen. Ich dachte immer sie besitzen einen gewissen 'Selbstschutz', der sie richtig aufkommen lässt, auch wenn der Reiter mal nicht ganz richtig dabei ist. Schließlch verletzen sie sich ja auch selbst dabei. Wie auch immer, mit 'Anna Karenina' liebäugel ich schon länger, aber es ist so lang... Mal sehen, vielleicht traue ich mich ja noch ran. Leider liege ich bei der Challenge im Moment ganz schön zurück...

    LG Caro

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  3. Ich bin schon schnell Auto gefahren (wenn auch nicht gerade in einem Porsche) und ich saß schon auf einem durchgehenden Pferd (was sich noch einmal deutlich schneller anfühlt als ein simpler Galopp) und glaub mir, der Ritt auf dem Pferd ist sehr viel eindrucksvoller! :D

    Ich mag deine Vergleiche, liebe es, wenn deine Begeisterung für ein Buch so durchbricht, und würde jedes Mal am Liebsten sofort zu genau diesem Titel greifen. :)

    @Caro: Guck dir einmal eine Military-Veranstaltung mit einem wirklich höllischen Kurs an und du kannst dich selber davon überzeugen, dass sich Pferde überschlagen können. Das sieht immer ganz fürchterlich aus, als ob sich Pferd und Reiter mindestens das Genick gebrochen hätten, aber zum Glück geht es häufig erstaunlich gut aus.

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  4. Du, Mila, wo du immer so schön aus dem Buch zitierst: Kannst du mal nachschauen, wer der/die Übersetzer/-in ist? Falls das da irgendwo steht. Das wäre lieb.

    Ich dachte eigentlich, ich les das Buch (wenn ich mal irgendwann Zeit dafür habe) in der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze, aber dir scheint deine ja auch gut zu gefallen ...

    Danke dir!

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  5. Jaja, Praktikum und Job ist schon ein bisschen crazy, das hab ich aber Ende letzten Jahres schonmal gemacht. In meinem normalen Job bin ich ja "feste freie" Mitarbeiterin, sprich ich arbeite da zwar jeden Tag, aber offiziell als Freiberufler. Da kann ich mir dann die Arbeitszeit relativ frei einteilen und auch abends und am Wochenende arbeiten. Nur sehe ich da keine großartigen beruflichen Aufstiegschancen. Die versprochene Festanstellung lässt schon seit mehr als nem Jahr auf sich warten, also hab ich angefangen, mich nach Alternativen umzusehen und das Praktikum macht echt Spaß und geht auch nur bis 16.00 Uhr, spätestens 17.00 Uhr, so dass ich danach noch den "normalen" Job machen kann.
    Ich will übrigens sowieso unbedingt mal nach Berlin. Erstens war ich noch nie da (Schande) und zweitens ist meine beste Freundin auch hingezogen! Also irgendwann werde ich kommen und dann müssen wir mal zusammen Bücher shoppen gehen oder Starbucks leertrinken oder so. =D

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    1. Ja perfect!! Oder hierhin: http://www.lange-buchnacht.de/index.php :)

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