Donnerstag, 4. April 2013

Warum jeder Autor eine 2. Chance bekommen sollte. (Anna Karenina, Rezension Part I)

Letztes Jahr um diese Zeit (und gefühlt vor 10 Jahren) habe ich versucht, "Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi zu lesen. Ich bin schmählich gescheitert und habe nach 400 Seiten - davon ca die Hälfte überblättert - entnervt aufgegeben. Und damit wäre Leo Tolstoi für mich für alle Zeiten verloren gewesen - hätte es nicht diesen Blog gegeben. ABER ES GIBT IHN JA.

Ohne viel Elan und voller Vorurteile habe ich mich also schweren Herzens Mitte März an Anna Karenina getraut. 

Es folgt: Das Protokoll einer Verzauberung. (Part I)

Russland, Ende des 19. Jahrhunderts. Ich werde hineingeworfen in die Ehekrise des Fürsten Stefan Oblonski und seiner Frau Dolly. Er hat sie betrogen (schon seit Jahren), sie hat es jetzt erst herausgefunden. Der Hausfrieden hängt schief, die Dienerschaft ist verzweifelt, die Rede ist von Trennung. Während seiner Frau das Herz bricht, fragt er sich, warum. So richtig hübsch war sie ja schon lange nicht mehr und ganz ehrlich - wer kann es ihm da verübeln, dass er ein bisschen Spaß mit der jungen Gouvernante hat? Da hätte sie doch mit rechnen müssen? Dieser durchaus gutmütige, allseits beliebte, aber leider nicht ganz so helle Fürst hat es innerhalb von zehn Minuten geschafft, dass ich mitten in der Geschichte stecke. Übrigens auf Dollys Seite.

Auftritt Anna. 
Ich fragte mich schon, wo sie bleibt. Anna Karenina ist die Schwester des Fürsten Oblonski. Eine bezaubernde, wundervolle, energiesprühende Person. 
"Anna machte gar nicht den Eindruck einer Weltdame oder der Mutter eines achtjährigen Sohnes, sondern ähnelte eher einem zwanzigjährigen Mädchen in der Biegsamkeit ihrer Bewegungen, in der Frische ihres Wesens und in der ein wenig zurückgehaltenen Lebhaftigkeit ihres Gesichtes..."
Sie ist angereist, um die Ehe ihres Bruders zu kitten. Mit Mitgefühl und sehr viel Verständnis für beide Parteien gelingt es ihr, die Beiden zu versöhnen. Und hier, an diesem Punkt, in Kapitel 28 des ersten Buches, beginne ich zum ersten Mal zu verstehen, was für ein meisterhafter Erzähler Leo Tolstoi ist!

Denn durch eine ganz kleine Szene gelingt es ihm, der Euphorie des Lesers, der schon unvermittelt angefangen hat Anna zu lieben, weil alle in ihrer Nähe so begeistert von ihr sind, einen dumpfen Unterton zu verleihen.

Es beginnt damit, dass Anna, sobald sie das Zimmer betritt, sofort von den vielen Kindern ihres Bruders umringt wird.
"Ob es nun daher kam, dass die Kinder sahen, wie sehr ihre Mama diese Tante liebte, oder daher, daß sie selbst an ihr Gefallen gefunden hatten: (...) sie hatten sich schon vor dem Mittagessen wie Kletten an die neue Tante gehängt und waren keinen Augenblick von ihr gewichen. (...) "Nein, ich zuerst! Nein, ich!" schrien die Kinder, die mit ihrem Tee fertig waren und nun wieder zu Tante Anna hereingestürmt kamen. "Alle zugleich!" rief Anna und lief ihnen lachend entgegen, umarmte sie und warf sich mit diesem ganzen kribbelnden, vor Entzücken kreischenden Kinderschwarm auf den Boden."
WAS FÜR EINE FRAU! 

Und dann kommt der Abend. Ein Ball. Was dort los ist, werde ich erst mal nicht sagen, denn eventuell geht es euch ja wie mir und ihr habt es geschafft, durch eure komplette Schullaufbahn zu kommen, ohne jemals zu erfahren, warum die Figur der Anna Karenina so berühmt geworden ist. Das will ich euch natürlich nicht nehmen, falls ihr das Buch mal lesen wollt. 

Ich schreibe euch nur ein paar Worte Tolstois auf und lasse die folgende Szene, die am nächsten Tag stattfindet, wirken. 
"Dolly und Anna speisten allein mit den Kindern und der Engländerin. Kam es nun daher, daß Kinder unbeständig sind, oder daher, daß sie feinfühlig sind und diese hier es herausfühlten, daß Anna heute eine ganz andere war als an jenem Tage, da sie sie so liebgewonnen hatten, und sich nicht mehr für sie interessierte: genug, sie hatten die Lust, mit der Tante zu spielen, ganz verloren, auch mit der Liebe zu ihr war's zu Ende, und daß Anna nun abreiste, machte ihnen gar keinen Eindruck."
... ich weiß ja nicht, ob es euch jetzt genauso geht wie mir, aber mich hat dieser Sinneswandel der Kinder unbewusst tief beeindruckt und bei mir ein sehr zwiegespaltenes Gefühl zu dem Charakter der Anna Karenina bewirkt. Mit diesen paar Sätzen, scheinbar nebensächlich, gibt Tolstoi ein Gefühl vor, das mich seiner Hauptfigur gegenüber das ganze Buch begleiten wird. 

Das Buch ist so vielschichtig, dass ich es unmöglich in einem einzelnen Post behandeln kann, deshalb werde ich mir einige besondere Szenen herauspicken und Ihnen jeweils einen Part widmen. Allerdings werde ich wohl ab dem nächsten Part anfangen müssen zu spoilern, deshalb hier schon einmal ein sehr knappes, kurzes Fazit für alle, die das Buch nicht kennen und es vielleicht noch lesen möchten. (Ich bin übrigens selbst erst zu zwei Drittel durch, also ist ein abschließendes Fazit eh noch nicht möglich.)

Fazit
Anna Karenina ist für mich eine große Überraschung und ganz anders als Krieg und Frieden. Abgesehen davon, dass es nur eine handvoll wichtiger Charaktere gibt und diese sich diesmal auch vom Namen her ganz gut unterscheiden lassen, geht Tolstoi hier detailliert auf die Gefühle seiner Figuren ein. Und dabei zeichnet er ein dermaßen realistisches Bild, dass ich mir wirklich vorkomme wie im Russland des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte fließt sehr langsam dahin und Tolstoi nimmt sich extrem viel Zeit, einzelne Szenen zu entwickeln. Wenn ich mich nicht so in die Szenerie, das Land und die einzelnen Figuren verliebt hätte, würde ich mich wahrscheinlich furchtbar langweilen. Da ich aber glücklicherweise sowieso eine Leidenschaft für Russland, das neunzehnte Jahrhundert und die Landwirtschaft habe, schafft es die Geschichte, mich in ihre Welt abtauchen zu lassen. Außerdem gibt es so viele Lesemomente in denen ich mir denke "Wahnsinn, ist der Mann brilliant!", dass auch ein bisschen Langeweile wieder aufgewogen wird.

Ich empfehle das Buch unter Vorbehalt, da ich glaube, dass es sehr stark von der Persönlichkeit des Lesers und eventuell auch von seiner momentanen Stimmung abhängt, ob die Gesichte es schafft, ihn zu fesseln, zu beeindrucken und eventuell sogar in eine andere Zeit zu entführen.

Hier ein Trailer der 2012 Verfilmung, in der leider Keira Knightley, die ich nicht ausstehen kann, die Hauptrolle spielt. Meiner Meinung nach verrät der Trailer aber schon viel zu viel von der Geschichte um Anna und ignoriert komplett die anderen Figuren, die das Buch zu etwas besonderem machen. Hat jemand den Film gesehen? Kommen die anderen Geschichten da wenigstens auch mal vor?




Ps: Sorry, die Cover sind durchweg bescheuert. Entweder sieht Anna total furchtbar aus oder sie ist Keira Knightley was meiner Meinung nach nur eine unwesentliche Verbesserung ausmacht. Ich habe deshalb oben das Cover der eBook Version - die ich gerade lese - genommen, welches zwar auch nicht grandios ist, aber ich kann zumindest sagen, dass der Inhalt der "Null Papier" Version toll übersetzt und schön illustriert ist.

7 Kommentare:

  1. Haaach, Mila! Du glaubst ja gar nicht, wie mich der Beitrag freut!
    *sing* Sie mag Tolstoi, sie mag Tolstoi!

    Und genau das, was dir daran so gefällt, hat mich auch sehr begeistert. "Krieg und Frieden" ist mehr ein Panorama, bei dem für die einzelnen Figuren nicht viel Zeit bleibt, "Anna Karenina" dreht sich nur um die Figuren. Ich hatte mich schon bei ersterem in die Figuren und das Setting verliebt, bei letzterem ist das aber natürlich viel einfacher.
    Ich liebe es gerade bei diesem Buch, wie vielschichtig die Charaktere sind. Von Anna über Stiva Oblonski bis Karenin - mal hasst man sie, mal liebt man sie, und das macht sie sehr menschlich. Und Levin und Kitty sind einfach nur knuffig.

    *zusammenreiß*

    Über Keira Knightley als Anna habe ich mich übrigens auch aufgeregt - ich weiß echt nicht, warum die in letzter Zeit alle weiblichen Rollen der Weltliteratur verhunzen - äh, spielen muss. Als ich den Trailer sah, habe ich dann beschlossen, dass mir die Verfilmung eh zu schräg ist.
    Mal abgesehen davon, dass es vermutlich ähnlich wie bei der mit Sean Bean und Sophie Marceau fast ausschließlich um Anna und Wronskij geht. Muss ja, bei einem Zwei-Stunden-Film. Deshalb mochte ich die BBC-Miniserie deutlich lieber, die ich mal auf Youtube gesehen habe, auch wenn die auch alles andere als perfekt war, aber sie gab den anderen Charakteren halt mehr Screentime, weil sie insgesamt mehr Screentime hatte. ;-)

    Na, dann bin ich mal gespannt auf weitere Teile deiner Rezension!

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  2. Wie schön! Mit Tolstoi ist es schon schwierig, finde ich. "Krieg und Frieden" habe ich versucht und entnervt abgebrochen. "Anna Karenina" habe ich dann auch eher misstrauisch begonnen und war sofort begeistert. Dann habe ich Jahre Später mich nochmal an "Krieg und Frieden" versucht und siehe da - jetzt fand ich es doch gut.

    Und letzte Woche bin ich ganz optimistisch an die "Kreutzersonate" gegangen - und entnervt abgebrochen...

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  3. Liebe Mila, deine Begeisterung freut mich! Anna Karenina hat zwar ein paar Längen, liest sich aber tatsächlich sehr gut durch, so ging es mir auch. Wenn du spoilerst, werde ich auch meine Meinung zum Ende geben, das hat mich nämlich frustriert, weil Tolstoi da völlig im Rahmen seiner Zeit geblieben ist - und im Rahmen seiner (für Frauen, nicht zwingend für ihn) höchst moralischen Vorstellunge. Dagegen der notorische Ehebrecher Oblonski... LG Mila

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  4. Ohh Anna Karenina liegt auch schon eewig auf meinem SUB... sollte mich wohl doch mal an diesen "dicken Schinken" trauen ;)
    LG
    Cat

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  5. Hallo Mila,

    vielen Dank für diese tolle Rezension!

    Ich habe die Verfilmung gesehen (wegen Tom Stoppard, der das Drehbuch geschrieben hat, nicht wegen Keira Knightley). Eigentlich dachte ich damals: "Gut, dann musst du den Roman nicht mehr lesen, weil du dann ja weißt, worum es geht." Aber Fehlanzeige: Nach der Verfilmung wollte ich dann unbedingt den Roman lesen, weil ich wissen wollte, was von dem Film Tolstoi und was Stoppard ist. Die Verfilmung hat ja ganz viele Theater-Elemente: eine Bühne, die zum Schauplatz wird, und ein Schauplatz, der dann wieder Bühne wird, Kulissen, "eingefrorene" Figuren etc. Das fand ich echt interessant gemacht, passte meines Erachtens auch zu einer Geschichte, in der viele Leute ja ihre festen Rollen spielen sollen - und manche sie eben nicht so spielen wollen, wie sie sollten.
    Die Geschichte um Annas Bruder und seine Frau kam auf jeden Fall durchaus auch vor - und dann gab's da noch so einen jungen Kerl vom Land, der die ganze Zeit in eine Frau verliebt ist, die ihn aber keines Blickes würdigt ... Ich mag jetzt nicht mehr sagen, um nicht zu spoilern, aber das kam auch relativ ausführlich vor.

    Leider hatte ich (bis eben) echte Vorurteile gegenüber diesen langen russischen Romanen. Für "The Big Read" muss ich sie natürlich irgendwann mal lesen, hätte das aber bestimmt lang vor mir hergeschoben ... wenn da nicht deine euphorische Rezension aufgetaucht wäre! Die nimmt mir echt die Angst und jetzt hab ich richtig Lust drauf, "Anna Karenina" mal zu lesen. Und ich weiß nun auch, dass ich definitiv "Anna Karenina" vor "Krieg und Frieden" lesen werde. ;-)

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  6. Hey ,
    Eine schöne Rezension .
    Würde mich freuen wenn du mal bei mir vorbei schaust , dort läuft grade ein Gewinnspiel =)

    LG Jenny

    http://jemasija8.blogspot.de/2013/03/150-lesermarke-geknackt-ein-fettes.html

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  7. Anna Karenina steht auch noch auf meiner Leseliste :)
    Liebe Grüße!

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